Gastbeitrag der DEUTSCH-ERITREISCHEN GESELLSCHAFT (DEG) auf der DEMO des Zentralrat der Eritreer in Deutschland, in BERLIN am 20.10.2023

Gastbeitrag der DEUTSCH-ERITREISCHEN GESELLSCHAFT (DEG) auf der DEMO des Zentralrat der Eritreer in Deutschland, in BERLIN am 20.10.2023

Sehr verehrte Teilnehmer der heutigen Demonstration,

sehr verehrte Anwesende und Zuhörer,

für die Gelegenheit, anlässlich dieser Kundgebung ein Grußwort an Sie zu richten, möchte ich mich im Namen der DEUTSCH-ERITREISCHEN GESELLSCHAFT /DEG zunächst bei den Veranstaltern bedanken! Mein Name ist Dirk Vogelsang und ich bin Vorsitzender der DEUTSCH-ERITREISCHEN GESELLSCHAFT. Unsere Gesellschaft besteht aus deutschen und eritreischen Mitgliedern, die sich zum Ziel gesetzt haben, der deutschen Öffentlichkeit ein „umfassendes, realistisches Bild des heutigen Eritrea, seiner Menschen, Institutionen und Vielfalt zu vermitteln“. Wir wollen damit einen praktischen Beitrag zur Verständigung zwischen den hier lebenden Eritreern und Deutschen leisten, und damit zugleich auch ein besseres Verständnis des Landes Eritrea ermöglichen, seiner Geschichte, Kultur, aktuellen Entwicklung und der Probleme, mit denen die Eritreer sowohl am Horn von Afrika als auch hier in der sog. Diaspora konfrontiert sind. Letztlich möchten wir damit auch ein ganz klein wenig zur Völkerverständigung über die Kontinente hinweg, also zwischen Europa und Afrika, beitragen.

Wie dringend nötig dies ist, zeigen in dramatischer Weise die Ereignisse der letzten Wochen und Monate, auf die meine Vorredner bereits eingegangen sind: seit dem Sommer des letzten Jahres werden eritreische Festivals, Kulturveranstaltungen und Seminare von einer zuvor nie erlebten Serie äußerst gewaltsamer Überfälle und brutaler Attacken erschüttert. Für unsere eritreischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen viele seit Jahrzehnten friedlich und gut integriert hier leben, von denen ein Großteil hier geboren ist und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist dies ein Schock.

Da ich erst vor wenigen Tagen von einer 3-wöchigen Eritrea-Reise zurückgekehrt bin, habe ich mich für einen eher persönlichen Einstieg in unser heutiges Thema entschieden. Bitte gestatten Sie mir daher, mit der exemplarischen Wiedergabe einiger Fragen zu beginnen, die während unseres Besuchs von eritreischer Seite immer wieder gestellt worden sind. Wir hatten die Gelegenheit, nicht nur die Hauptstadt Asmara, sondern auch andere Orte wie Keren, Afabet, Nakfa im nördlichen Sahelgebirge und einen Teil der westlich gelegenen Region Gash Barka zu besuchen. Zu den Menschen, die wir trafen, gehörten einfache Farmer, Handwerker, Nomaden ebenso wie Leute, die in staatlichen Einrichtungen, der Administration, als Verwaltungsbeamte, Lehrer oder Ärzte arbeiten. Wir konnten Projekte von besonders vulnerablen Gruppen wie Kriegsversehrte, Blinde oder alleinerziehende Mütter besichtigen.

Wiederholt wurden wir früher oder später mit denselben Fragen konfrontiert:

Was ist da los bei Euch in Deutschland, in Europa? Warum werden die Versammlungen unserer Landsleute überfallen? Wieso werden diese nicht besser geschützt? Ist denn nicht bekannt, warum die Festivals und Feiern eine so große Bedeutung für unsere kulturelle Identität haben? Stimmt es tatsächlich, dass unsere Vereine allen Ernstes sogar aufgefordert worden sind, auf das Versammlungsrecht zu verzichten, damit die Angreifer milde gestimmt werden und weitere Angriffe unterlassen? Weiß man denn in Deutschland nicht, dass diese Angreifer traumatisierte junge Männer aus der äthiopischen Nordprovinz Tigray sind, die sich für die Niederlage in einem Krieg rächen wollen, den ihre eigene Führung vom Zaun gebrochen hat und dessen tatsächlichen Grund sie bis heute nicht verstanden haben? Habt ihr das der deutschen Öffentlichkeit nicht erklärt?

Was antwortet man dann Menschen in Eritrea, die über die Abläufe nicht nur aus den Medien informiert waren, sondern auch durch ihre Familien und Angehörigen in der Diaspora, und um die sie sich Sorgen machen? Was also soll man antworten?

  • Dass ein maßgeblicher Teil des medialen Mainstreams in Deutschland Eritrea als „Diktatur“ darstellt und letztlich suggeriert, die Überfälle seien auf die „verzweifelte Situation“ von eritreischen „Regime-Gegnern“ zurückzuführen?
  • Dass hier in klassischer Verkehrung eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet, indem Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern gemacht werden?
  • Dass die Gewaltexzesse, obwohl planvoll und mit erheblichen Mitteln von außen inszeniert, von interessierter Seite als willkommener Anlass für eine unterschiedslose Verschärfung der Migrationspolitik benutzt werden?
  • Dass ein Konflikt, von dem wir wissen und belegen können, dass er externe Ursachen hat und von außen durch Nicht-Eritreer in die eritreischen Communities hineingetragen wird, in den deutschen Medien als Kampf zwischen Anhängern und Gegnern des sog. „Regimes“ präsentiert wird, also wider besseres Wissen als „innereritreische“ Auseinandersetzung?
  • Dass ähnliche Versäumnisse beim Schutz ausländischer Mitbürger und ihrer Communities bei einem komplett anderen Szenario – man stelle sich einmal gewaltsame Attacken auf Versammlungen ukrainischer Kriegsflüchtlinge vor – völlig undenkbar wären und, wären sie dennoch zu beklagen, ein politisches Erdbeben auslösen würden?

Letztlich läuft es auf die stets gleiche Frage hinaus: warum werden an Eritrea und seine hier lebenden Menschen, Vereine und Repräsentanten so eklatant andere Maßstäbe angelegt als bei allen sonstigen Ländern und deren Diaspora? Warum ist jede Form der Dämonisierung, der Stigmatisierung und jedes noch so an den Haaren herbeigezogene Narrativ erlaubt, sobald es um Eritrea geht? Woher kommen die Narrenfreiheit und die „Carte Blanche“ im Falle Eritreas?

Weil es einen überlangen „National Service“ gibt? Auch wir und viele Leute in Eritrea sind damit nicht glücklich. Aber im sog. National Service werden überwiegend zivilgesellschaftliche Aufgaben erfüllt, die Bezahlung wurde deutlich verbessert, und nach 30 Jahren Krieg sowie fast ebenso langen Sanktionen lassen sich nun einmal nicht alle Probleme auf Anhieb lösen. Die Diskrepanz zwischen guten Qualifikationen und entsprechenden Stellen wird geringer, aber sie verschwindet nicht einfach über Nacht.

Weil es keine parlamentarische Parteienlandschaft und entsprechende Wahlen westlicher Prägung gibt? Wir kennen eine ganze Reihe Europäer und Ausländer aus allen möglichen Teilen der Welt, die Eritrea besucht haben. Jedoch haben wir noch keine einzige Person getroffen, die ehrlich davon überzeugt ist, dass die Einführung eines europäischen oder sonstigen parlamentarischen Systems zu den fünf oder auch nur zehn der wichtigsten eritreischen Aufgaben gehören sollte. Ein solches System existiert in ganz Afrika so nicht, und woanders nimmt niemand daran Anstoß, aus gutem Grund.

Schauen wir uns nun die andere Seite der Medaille an, blicken wir auf das Eritrea, welches in der westlichen Wahrnehmung so gut wie nie vorkommt. Damit meine ich das Eritrea, das inzwischen die höchste Lebenserwartung Afrikas hat, das Eritrea, das eine geringere Säuglingssterblichkeit als Deutschland aufweist, das Eritrea, das sauberes Wasser für über 90 Prozent seiner Einwohner bereitstellt, das Eritrea, das über ein kostenloses Bildungs- und College-System verfügt, das Eritrea, über dessen Schultoren der Slogan „Knowlegde is power“ angebracht ist, das Eritrea, dessen Gesundheitssystem einschließlich der Kampagne gegen Genitalverstümmlung beispielhaft ist, das Eritrea, das 820 kleine und mittlere sowie einige große Staudämme gebaut hat, das Eritrea, das terrassiert und aufforstet, um der Bodenerosion vorzubeugen, das Eritrea, das von den periodischen Hunger-Epidemien anders als seine Nachbarn nicht mehr betroffen ist, und das Eritrea, das mittlerweile wegweisend ist beim Thema ökologischer Um- und Anbau, im Energie- wie Agrarsektor – all diese „Eritreas“, und wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich weitere Beispiele aufführen, all diese „Eritreas“ werden hier in Deutschland nicht wahrgenommen. Es gibt sie schlicht nicht in der Darstellung.

Aber sämtliche dieser Facetten Eritreas existieren in der Realität, sie sind da, sie machen die unübersehbaren und fühlbaren Fortschritte im „social well-being“ der eritreischen Bevölkerung aus, sie ermöglichen ein Leben ohne Existenzangst, ein Leben in Würde. Und wer das nur aus drei Worten bestehende Motto des eritreischen Tourismus-Ministeriums – „Come and See“ – in die Tat umsetzt, kann sich selbst ein Bild davon machen.

So liegt denn das wahre Verbrechen Eritreas ganz woanders:

Das wahre Verbrechen Eritreas liegt darin, mit großer Beharrlichkeit an seinem Kurs der vollständigen Unabhängigkeit, des Vertrauens auf die eigene Kraft und der Ablehnung vergifteter „Hilfsangebote“ festzuhalten. Es liegt darin, sich dem Ausverkauf seiner Ressourcen an den Westen ebenso zu verweigern wie einer Unter- und Einordnung in einen globalisierten Markt, bei dem es nur einen Gewinner geben kann – die Industrienationen des Nordens – und nur einen Verlierer – die in diesem Wettbewerb chancenlosen Länder des globalen Südens.

Eritrea ist klein, flächenmäßig etwa so groß wie Österreich, und angesichts seiner Errungenschaften, zu denen in sozialer Hinsicht vor allem das absolut friedliche Miteinander seiner neun Ethnien und verschiedenen Religionen gehört, sollte man denken, es wäre kein Problem, ein solches Land einfach in Ruhe seinen eigenen Weg gehen zu lassen.

Die Sorge des Westens ist jedoch, dass das eritreische Beispiel Schule macht, und andere, auch größere Länder des afrikanischen Kontinents dem folgen könnten. So unpassend der Vergleich auch sein mag, insbesondere aus US-amerikanischer Sicht muss die weitere Verbreitung des eritreischen „Virus“, sein Übergreifen auf andere, noch in Abhängigkeit befindliche Staaten, um jeden Preis verhindert werden. Genau das meinte Hillary Clinton, als sie vor einiger Zeit feststellte, Eritrea sei der Prototyp eines „bad good state“.  Und die jüngste Entwicklung mit einer erheblichen Dynamik eigenständiger Bündnisse der Länder des globalen Südens zeigt: der Aufbruch hat bereits begonnen.

Ich komme damit zum Ende meines Grußworts. Die DEUTSCH-ERITREISCHE GESELLSCHAFT und ihre Mitglieder, für die ich hier sprechen durfte, sind aus langjähriger Erfahrung davon überzeugt:

Wer Eskalation vermeiden, wer ein friedliches Miteinander und einen fruchtbaren Diskurs fördern will, wer es ernst meint mit dem Gedanken der Völkerverständigung über alle Grenzen hinweg, der muss sich sein eigenes Bild machen, und versuchen, Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. Das geht nur durch Austausch, Dialog und das Bemühen um Gemeinsamkeit. Hierzu sind Versammlungen, kulturelle Veranstaltungen, freundschaftliche und familiäre Begegnungen auf Festivals unerlässlich! Daher sollten wir das Versammlungsrecht und das Recht der freien Meinungsäußerung schützen und verteidigen – nicht nur im Interesse der eritreischen Diaspora, sondern aller ausländischen Gemeinschaften und letztlich in unserem ureigensten Interesse als Menschen, die mit allen anderen Menschen, wo auch immer diese ihre Wurzeln haben, hier gemeinsam in Frieden leben wollen.

Vielen Dank!

DEG